Von Dr. Uwe Matthes, Ordensmeister der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland (Freimaurerorden), gegründet 1770
Brauchen wir eine zweite Aufklärung? Brauchen wir gar eine Revolution des Denkens? Ja. Dafür gibt es viele Gründe, zumindest die beiden folgenden seien genannt.
Zum einen: Die Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik und Kultur verändert jeden Einzelnen, die Menschheit insgesamt. Dies geschieht rasant, oft unbemerkt, vor allem kaum überschaubar. Die Fragen, was den Menschen ausmacht, ebenso wie die nach den Perspektiven der Menschheit stellen sich vor diesem Hintergrund neu und müssen vermutlich auch anders beantwortet werden als bisher.
Zum anderen: Zusammenhänge oder neue Denkweisen erschließen sich nur noch Gemeinschaften von Spezialisten, neue Erkenntnisse der Geistes- und Naturwissenschaften, technologische Trends, Marktentwicklungen, politische Ereignisse und deren jeweilige Ursachen dringen selbst in demokratisch verfassten Staaten nur gefiltert durch. Zu wem? Zu in Blasen gefangenen, von Fake News verunsicherten und sich somit immer stärker voneinander abgrenzenden »Normalbürgern«. In Autokratien und Diktaturen gelingt selbst dies kaum, und wenn, dann nur unter großen Opfern.
Gibt es die zweite Aufklärung? Ja. Ein gelungener Versuch liegt vor den Leserinnen und Lesern dieses Buches. Die Autorin und die Autoren versuchen Ordnung ins Chaos der Informationen zu bringen, erfreulicherweise in einer Sprache, die Teenies genauso erreicht wie deren Großeltern. Dabei gelingt Werner H. Heussinger, Christoph Cremer, Heike Görner und Ralph-Dieter Wilk nicht nur das systematisierende Erklären von Informationen und deren realgeschichtliche und geisteswissenschaftliche Herleitung. Sie stellen sich auch dem Anspruch, Altes und Aktuelles neu zu denken und zukunftsträchtige Denk- und Fühlmethoden vorzustellen.
Sind Aufklärer mutig? Ja. Sich die Freiheit zu nehmen, das Ganze zu denken, gegen detailverliebte Wissenschaftler, Mainstream-getriebene Medien, in der sozialisierten Rückwärtsverteidigung trainierte Kirchenleute und von Wahl zu Wahl sich verhaltende, mit oder ohne ideologische Scheuklappen begrenzte Berufspolitiker, ist mutig.
Eine Frau und drei Männer haben dieses aufklärende und mutige Buch geschrieben. Sie popularisieren damit einen interdisziplinären Dialog zu Menschheitsfragen. Diese bedeutsamen Fragen, die über Jahrhunderte, ja Jahrtausende immerfort gestellt wurden und nach deren Antworten man suchte und sucht.
In der Geschichte gab es Zeiten, in denen man die Menschheitsfragen häufiger und drängender stellte als in den Jahrzehnten oder Jahrhunderten davor oder danach. Dabei veränderte sich der Adressatenkreis für Fragen und Antworten und es fielen Letztere nicht selten anders aus als erwartet.
Eine der Phasen des Fragens, des Antwortens und des Erklärens war die europäische Aufklärung. Müßig scheint es, darüber zu streiten, ob sie ein Kind der Freimaurerei oder deren Mutter war. Fest steht: Die Freimaurer stellten zur Zeit der Aufklärung Fragen und gaben neue Antworten. Vielmehr jedoch: Sie klärten ihre Zuhörer über oft schwer durchschaubare Erscheinungen ihrer Zeit auf. Sie formulierten die von ihnen ausgemachten Ursachen der Entwicklung und sahen in die Zukunft. All dies oft in einer volksnahen Sprache.
Die Autorin und die drei Autoren, mehrheitlich Freimaurerin und Freimaurer, leben diese Tradition von alten Fragen und zeitbedingten sowie manchmal fast zeitlosen Antworten. Die im Buch geschilderten Fakten findet man sicherlich in der nächsten Auflage teilweise schon wieder aktualisiert. Jedoch die DNA der Geisteshaltung der Aufklärer wird bleiben. Dies auch, weil sie der Denk- und Gefühlswelt (heute sagt man der Denk- und Gefühlsfabrik, also dem Humankonzern) der Freimaurer entspricht. Die Autoren stehen in der Kette ihrer Freimaurerbrüder, die Dichter-Fürst oder nur Fürst, Philosoph, Theologe, die Politik karikierender Filmstar oder Präsident waren, als Komponisten oder Maler die Welt anders sahen als ein Astronaut, Kaufmann oder General.
Allen diesen Brüdern Freimaurern gedenken wir in unserer Großloge im November eines jeden Jahres. Dabei sind es manchmal »Riesen«, auf deren Schultern wir dankend stehen. Stets erinnern wir uns jedoch der Menschen, welche diese »Riesen« aufzogen, förderten und schützten – auch vor Mittelmäßigkeit in den eigenen Reihen.
Wie kommt es, dass die Freimaurerei immer wieder mutige Aufklärer hervorbringt? Vielleicht weil man in dieser Persönlichkeitsschule auch zur mutigen Aufklärerin und zum mutigen Aufklärer werden kann. Aber bleiben wir, bevor wir diese geheimnisumwobene Schule kurz besuchen, auf dem Teppich: Innovative Geister hatten und haben auch andere Heimatorte als die Persönlichkeitsschule der Freimaurer. Das formulierte schon der Freimaurerbruder Gotthold Ephraim Lessing, als er schrieb: »Freimaurerei war immer.« Damit nahm er den Logen und Großlogen ein Stück ihrer – manchmal nur eingebildeten – Exklusivität. Er gab diese ab, an eine zeitlose Geisteshaltung und Lebensweise. Die Art so zu denken, zu reden und zu handeln, wie es Freimaurer von sich verlangen sollten, ist nicht ausgestorben. Immer arbeiten weltweit Freimaurerinnen und Freimaurer an sich selbst. Üben die Königliche Kunst als optimale Persönlichkeitsschule aus. Warum dies so ist? Folgen Sie mir für wenige Zeilen bitte in die Freimaurer-Schule der Persönlichkeitsformung. Sie sollen dabei etwas erfahren über den Typus der Schüler, den Lehrplan, die Didaktik und Methodik seiner Vermittlung, über die Ziele der Ausbildung. Warum? So kann man vielleicht die Herangehensweise der mutigen Aufklärerin und ihrer Mitautoren an die heutigen Menschheitsprobleme besser verstehen.
Die Schülerinnen und Schüler wollen freie Menschen von gutem Ruf werden. Gemeint ist innerlich frei. Das scheint gelungen, wenn man es nach außen bemerkt. Ein Idealbild, dem jeder Mann und jede Frau nachstreben kann, wenn sie oder er es will. Das ist die einzige Aufnahmebedingung des Freimaurerbundes. Welch ein Glück, denn so finden sich in den Logen Menschen aus meist drei Generationen, mit unterschiedlicher Bildung und verschiedenen Berufen. Ihre sozialen Stellungen, politischen Meinungen, religiösen Überzeugungen sind nicht nur vielfältig, sondern zum Teil auch entgegengesetzt. Die Logenmitglieder haben unterschiedliche sexuelle Orientierungen, gehören unterschiedlichen Ethnien, Völkern und Staaten an. Charakterlich und damit auch vom Temperament her sind sie ein Abbild von Vielfältigkeit. Ihr Wertekanon betont Gerechtigkeit, individuelle Rechte, Toleranz, Fairness oder auch Loyalität, Respekt, Gemeinschaft, Familie. Die Schülerinnen und Schüler betrachten Gott und die Welt ganz verschieden: als Künstler, als Wissenschaftler, als Mutter und Vater, Tochter und Sohn. Übrigens: Auch die Autoren des Buches sind ein Abbild der Unterschiedlichkeit, beispielsweise der Berufswege: Ein nobelpreisverdächtiger Naturwissenschaftler, ein erfolgreicher Gründer einer börsennotierten Unternehmensgruppe und innovativ sozial Engagierte haben hier zusammengefunden.
Was eint die so ungleichen Schüler? Freimaurinnen und Freimaurer wollen an ihrer Persönlichkeit arbeiten. Eine Arbeit im Inneren, im Stillen, und doch ist die Loge als äußerer Platz optimal, weil man auf die anderen Schüler, die das gleiche Ziel haben, stößt. Man ist als Ungleicher unter Ungleichen mit gleichem Ziel unterwegs. Eine Lebensreise, die immer wieder neue Begegnungen, neue Anregungen, neues Wissen für den Einzelnen hervorbringt und sich als emotionale Gemeinschaft immer wieder neu konstituiert.
Wer bildet den Lehrkörper? Die Schülerinnen und Schüler. Besserwisserei und Umerziehungsabsichten bei Nebenbruder oder -schwester sind dabei verpönt. Auch der individuelle Anspruch, die Gesellschaft zu ändern, rangiert weit hinter dem, sich selbst zu ändern.
Somit ist maximale Toleranz das höchste Gebot in der Schule. Die Bemühung, sich selbst zu verändern, der Zweck der Schule, gibt den Lehrplan vor. Geübt wird demnach zuerst, in sich selbst hineinzuhören. Das funktioniert nur schweigend. Dann geht es bei der Übung darum, mit dem Nebenmenschen nicht nur auszukommen, sondern ihm auch zu helfen. Schließlich übt man, sich nicht als Mittelpunkt zu sehen, sondern nach fundamentalen Ursachen, nach umfassender Bewegung, ja nach dem Transzendenten zu suchen.
Gibt es spezifische Quellen, aus denen geschöpft wird? Nein, denn kaum etwas ist so eklektisch wie die Freimaurerei, welche auf Philosophien, Religionen, Geschichte, Kultur und Kunst zurückgreift und dies alles mit der Alltagserfahrung der Schüler konfrontiert.
Deutlich wird vielleicht, dass Ungleiche am gleichen Ziel mit vielfältigen Quellen arbeiten und sich dabei bemühen, tolerant zu sein. Das Ganze sowohl mit Verstand wie auch mit Gefühl. Für Ersteres eignen sich dabei besonders Symbole, von denen die Freimaurer viele erkunden und interpretieren. Für Zweiteres sind Rituale von großem Wert. Zum Teil über viele Jahrhunderte tradiert, werden sie Monat für Monat geübt.
Schließt man die Schule mit einem Zertifikat ab? Nein, man bleibt immer Schüler. Gibt es einen Leistungsnachweis? Ja, die Meinung der Mitmenschen.
Worin besteht das Geheimnis der Schule? Es gibt keines. Nur die Geheimnisse einer jeder Schülerin und eines jeden Schülers: die Selbstantwort auf die Frage, wie ich an mir arbeite.
Zu viel verraten über das, was Freimaurerei als Schule der Persönlichkeitsentwicklung ausmacht? Nein, vom Lesen eines Bauplanes und vom Studieren der Leistungen vieler Baumeister wird man nicht einmal Lehrling auf dem Bau. Das Lesen vieler Bücher über eine Schule, ihre herausragenden Schüler und deren Leistungen kann keinen jahrelangen Schulbesuch ersetzen. Man muss sich schon selbst auf die Schulbank begeben. Vielleicht treffen wir uns dort und erinnern uns, wie alles mit diesem Buch über Menschheitsfragen begann. Mich würde es freuen.