Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Fragmentierung der heutigen postmodernen Wissenschaften immer stärker den Bedarf offenbart, im Sinne Goethes ganzheitlich zu denken – davon handelt Kapitel 9 »Vom ganzheitlichen Menschen zum einzelnen Molekülkristall: Wir brauchen eine Brücke zwischen den Wissenschaftswelten«. Die Epoche um 1800 stellt einen Umbruch in der Geschichte der Wissenschaft und der Konzepte der Natur dar: In den Vordergrund der Forschung treten Fragen der Organisation des Lebendigen, insbesondere in seiner Beziehung zu den physikalisch-chemischen Grundgesetzen, aber auch mit ihren religiösen, philosophischen und ethischen Implikationen. Wenn in einer radikalen Konsequenz der gesamte Organismus – das heißt die Vielheit der Zellen – nur als eine große Ansammlung von »Reagenzgläsern« aufgefasst wird, besteht die Gefahr, dass ein humanes Bild des Menschen infrage gestellt wird. Betrachtet man das Konzept des lebendigen Organismus als System, dann stellt dieses System – bezogen auf seine Größe – das komplexeste Gebilde unseres Universums dar. Goethe hat die Naturwissenschaft herausgefordert, er wollte sie als ganzheitlich verstehen: Wie sie wirkt und was sie bewirkt. Heute, da unsere Erkenntnisse immer tiefer und gleichzeitig vielfältiger werden, sind Universalgelehrte wie Goethe kaum noch vorstellbar. Wer hat heute schon die Kapazitäten, von der Philosophie über die Astronomie und Mathematik bis hin zur Quantenphysik mitreden zu können? Der Unwille, zu wagen zu denken, scheint in vielerlei Aspekten in unserer Gesellschaft tief verankert zu sein. Wissenschaft ist immer auch Austausch und Diskurs. Wer diskutiert, muss bereit sein, Erkenntnisse zu erlangen, die einem selbst klarmachen, dass man unrecht hat und eventuell sogar gescheitert ist. Wer nicht diskutiert, Wahrheiten infrage stellt, wird die Wahrheit über das eigene Scheitern jedoch vermutlich niemals erfahren. Grundsätzlich: Hier ist das Aufeinanderzugehen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften, die einstens Humaniora hießen und noch heute in der angelsächsischen Welt sinnvoller Humanities genannt werden, mehr denn je gefragt. Die beiden Kulturen müssen wieder zusammenkommen, und dafür mag der Name Goethe vorbildlich sein.
»Leben ist ein spezielles Ordnungssystem, das Atome und Moleküle zu einem bestimmten Zweck miteinander verbindet und trennt und das, obwohl sie von selbst in der für das Leben notwendigen Weise gar nicht zusammenfinden würden.« (S. 225)
»Um dem Geheimnis des Lebens und der Schönheit auf die Spur zu kommen, ist es bei Weitem nicht ausreichend, die Welt ständig weiter ohne »Geistiges Band« in ihre Einzelteile zerlegen zu können. Es gilt, auch unser Denken, Fühlen und Handeln wieder miteinander zu verbinden und in Einklang miteinander zu bringen.« (S. 29)